Was würden Sie bei Ihrem Kind machen, Frau Doktor?
Ab und zu bekomme ich diese Frage in meiner Praxis gestellt. Sie hat mich am Anfang zum Nachdenken gebracht. Mit der Zeit habe ich es gelernt, ihr gelassener zu begegnen.
Die Antwort auf diese Frage kann tatsächlich anders als erwartet ausfallen. Dies kann aber mehrere Gründe haben, die nichts mit „vorenthalten wollen“ zu tun haben.
Einer der Gründe könnte sein, dass wir, Kieferorthopäden, unsere eigenen Kinder jederzeit ohne Weiteres wieder behandeln können. Wir, Mediziner, wissen, dass die Grenzen des Machbaren manchmal sehr wohl dehnbar sind.
So haben wir bei unseren Kindern die Möglichkeit, einen außergewöhnlichen Weg zu wählen. Sollte dieser nicht funktionieren, so können wir immer noch den klassischen Weg einschlagen (Aufklärung, Einverständnis und Vertrauen unserer Kinder/Ehepartner vorausgesetzt).
Sollten wir das Gleiche beim konkreten Patienten machen und es funktioniert nicht- so haben wir die Behandlung zumindest finanziell extrem gedehnt. Es folgen unangenehme Fragen und Diskussionen. Deshalb kann es sein, dass der eine oder andere außergewöhnliche Weg bei der Beratung nicht mal erwähnt wird.
Ein Weiterer Grund kann das Streben nach der „idealen Zahnstellung“ von manchen Eltern sein. In der Realität kann so manche Zahnfehlstellung ohne funktionelle Einbuße belassen werden.
Hier ein paar Beispiele:
Bei einem jungen Patienten ist im Laufe der Behandlung die Frage aufgekommen, ob man einen bleibenden Zahn im Oberkiefer lieber zieht und die Lücke kieferorthopädisch schließt. Dieser Zahn wies eine tiefe Füllung auf und laut dem Zahnarzt würde der Zahn in ca. 10 Jahren verloren gehen. Durch den Lückenschluss würde man den Weisheitszahn einordnen- und somit ihn erhalten können. Der Vorteil hier wäre darin gewesen, dass man diese Lücke mit den eigenen Zähnen schließen könnte. Der Nachteil – evtl. hat man einen gesunden Zahn gezogen. Alternativ könnte man diesen Zahn belassen, aber der Weisheitszahn musste dann gezogen werden (um den Rückfall des Engstandes zu vermeiden). Würde der Zahn in 10 Jahren verloren gehen, so hätte man später eine Zahnlücke. Da fragt mich die Mutter: was würde ich bei meinem Kind wohl tun.
Bei meinem Kind würde ich den Zahn mit der fraglichen Füllung belassen. Den Weisheitszahn würde ich ebenfalls belassen (wie schon erwähnt: ich kann jederzeit den Engstand wieder korrigieren). Sollte sich der Zahn in 10 Jahren tatsächlich verloren gehen, würde ich versuchen die Lücke kieferorthopädisch zu schließen. Laut den Richtlinien lässt sich eine Lücke von 10mm im Oberkiefer im Erwachsenenalter nicht schließen, da die Kieferhöhle dem entgegenwirkt. Da ich aus Erfahrung aber weiß, dass das doch noch möglich sein könnte, würde ich bei meiner Tochter die Lücke schließen wollen. Einem Patienten kann ich aber nicht versprechen, mit 25 Jahren eine 10mm große Lücke kieferorthopädisch schließen zu können.
Beim anderen Kind war ein bleibender Zahn im Unterkiefer nicht angelegt. Auch da fragte mich die Mutter, was ich bei meinem Kind machen würde. Meine Antwort war: da kein Weisheitszahn angelegt ist, muss so eine Lücke, laut Richtlinien, gehalten werden und später ein Implantat gesetzt werden. Bei meinem Kind würde ich aber die restlichen seitlichen Zähne so einstellen, dass sie ca. 2mm lückig stehen und die oberen Gegenzähne abstützen. Medizinisch gesehen würde so eine Verzahnung und auch die Lücken keine Einbuße mit sich bringen. Die Lücken im Unterkiefer- Seitenzahnbereich wären normalerweise von außen nicht sichtbar gewesen.
Die Mutter hat aber sehr viel Wert darauf gelegt gehabt, dass alle Lücken geschlossen würden. Dann ist meine Lösung natürlich nichts für sie gewesen. Das heißt, die idealisierte Vorstellung der Mutter zum Behandlungsergebnis hat gegen meinen Vorschlag eine wichtige Rolle gespielt.
Das Ganze ist aber bitte nicht so zu verstehen, dass in der Kieferorthopädie alles möglich ist. Manchmal habe ich in der Praxis ein Elternteil vor mir, der eine ganz genaue Vorstellung davon hat, mit welcher Spange bei seinem Kind was zu erreichen ist.
Eine Mutter hat mich gebeten bei ihrem 15-jährigen Sohn ein funktionskieferorthopädisches Gerät einzusetzen. Der Junge wollte keine feste Spange und hat mich versichert, dass er die Spange fleißig tragen würde. Ich habe die Beiden versucht zu überzeugen, dass es für diese Spange schon zu spät sei. Die Mutter hat mich versichert, wenn dies nicht funktionieren würde, dann würde sie das einsehen- und mit der festen Spange die Behandlung weitermachen wollen.
Hier musste ich auf die Richtlinien und Studienlage bestehen. Dies ist etwas, was mit Sicherheit nicht funktionieren kann. Anschließend hätte die Mutter zu Recht behaupten können, sie wäre nur ein Laie gewesen und ich als Kieferorthopädin hätte es besser wissen müssen. Gerade deshalb bin ich verpflichtet, in solchen Fällen die Behandlung abzulehnen. Dies gilt auch dann, wenn die Mutter die Behandlung privat übernehmen würde. Da ist die Grenze des Machbaren eindeutig erreicht.
Fazit: Wenn die o.g. Frage gestellt wird, selbstverständlich erwähne ich auch die alternativen Wege und dann finden wir gemeinsam mit den Eltern eine Lösung.
Deshalb kann die Antwort auf die o.g. Frage eine Bereicherung für die Beratung sein und neue Behandlungswege eröffnen, unabhängig von den finanziellen und sonstigen Einschränkungen.
Nichtdestotrotz kann nur ein Kieferorthopäde die Grenzen des Machbaren aus der Studienlage und Erfahrung, unter Berücksichtigung der Richtlinien, aufzeigen.